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4. September 2007 um 0:57 Uhr #5630
Hallo an alle,
mein gegenwärtiges Problem läßt mir im Moment einfach keine Ruhe, dabei dachte ich längst damit abgeschlossen zu haben. Es ist eigentlich beruflicher Natur, spielt aber auch viel in den persönlichen Bereich hinein; ich weiß einfach nicht was richtig ist, bzw. eigentlich weiß ich das sehr genau, aber es zieht mich auch ziemlich runter.
Die Vorgeschichte ist leider etwas lang, aber um alles zu verstehen kann ich es nicht kürzer machen:Ich bin von Beruf Krankenschwester und es ist nun schon 14 Jahre her, daß ich auf meiner ersten Intensivstation angefangen habe und damals war ich total bemüht mit den anderen mithalten zu können, bei meinem ersten beatmeten Patienten war ich die personifizierte Angst, daß was schief gehen und ich einen Fehler machen könnte der dem Patienten irgendwie schaden könnte.
Die Kollegen hatten mich sehr nett aufgenommen und auch der Chef der Abteilung war sehr nett zu mir und ich fühlte mich eigentlich ganz wohl auf der Intensivstation, war aber auch viel mit mir selber beschäftigt -klar, wenn man neu ist und sooo vieles noch zu lernen hat.
Nach zwei Jahren wollte ich unbedingt die Weiterbildung zur Fachschwester für Intensiv/Anästhesie machen und wurde auch zugelassen. Hierzu war ich etwa 1,5 Jahre auf anderen Intensivstationen und in der Anästhesie eingesetzt und lernte und lernte und lernte…
Als ich auf meine alte Station zurück kam merkte ich so richtig, wieviel da im Argen lag -die Mitarbeiterführung war grottenschlecht, aber viel schlimmer war die Tatasche, daß ausgerechnet der Chef der Abteilung die Patienten für die er zuständig war in fahrlässigem Maße vernachlässigt hat: So waren häufig Patienten die man von ihm übernommen hatte nicht abgesaugt, keine Mundpflege durchgeführt, das Bett nicht bezogen, Systeme nicht gewechselt (aber als gewechselt dokumentiert!), die Patienten lagen offensichtlich schon länger in ihren Ausscheidungen und schienen allgemein schlecht versorgt. Es gab auch andere Dinge, überdie ich aber lieber nicht schreiben möchte. Natürlich war ich nicht die Einzigste der das auffiel, und es waren auch verschiedene Mitarbeiter bei der PDL (ich selbst auch) und haben auf diese Mißstände hingewiesen. Es geschah nicht viel und nach und nach resignierten diese ambitionierten Kollegen und kündigten oder ließen sich innerhalb des Hauses versetzen -es blieb die “Spreu” übrig, der Weizen war überwiegend weg.
Mir hatte das alles damals so sehr zu schaffen gemacht, daß ich mich sehr zu meinem Nachteil verändert hatte; ich war selbst im Urlaub sehr gereizt und immer auf Verteidigung aus; egal was man mir sagte, ich fühlte mich angegriffen und fühlte mich an allem schuldig. Das wirkte sich natürlich auch auf Freund- und Partnerschaften aus, und das nicht zu meinen Gunsten…
Einige Jahre habe ich das mitgemacht weil ich verpflichtet war -das Haus hatte mir meine Weiterbildungen finanziert- habe dann meine Stelle reduziert und eine weitere Weiterbildung gemacht, bis ich nicht mehr konnte und mich auf eine andere Intensivstation versetzen ließ. Die Jahre auf dieser ersten Intensivstation waren schrecklich deprimierend, da ich genau sehen konnte was geschah und nichts dagegen tun konnte. Außerdem bekam ich dort live mit was es heißt, gute Mitarbeiter zu “verheizen”, ein paar haben sich danach sogar in psychologische Betreuung begeben müssen.
Auf der nächsten Intensivstation war ich auch nochmal drei Jahre und habe dann gekündigt und in einem anderen Krankenhaus in einer anderen Stadt -ebenfalls Intensivstation- angefangen. Inzwischen bin ich in der Notaufnahme tätig, da ich nach einiger Zeit ein “Burn-out” hatte, kurz vorher hatte ich auch meinen ersten ND-Schub.
Inzwischen bin ich sehr zufrieden mit meinem neuen Tätigkeitsfeld; die Kollegen haben mich sehr gut angenommen, die Arbeit ist interessant und macht mir auch mehr Spaß als auf der Intensivstation; es ist einfach etwas völlig anderes und ich war auch sehr zufrieden……bis gestern.
Da habe ich einen Brief vom Polizeipräsidium meiner ehemaligen Heimatstadt bekommen -eine Vorladung zur Zeugenvernehmung in einer Ermittlung wegen schwerer Körperverletzung. Ich wußte erst gar nicht worum es eigentlich geht und habe da angerufen in dem Glauben, es könne sich nur um eine Verwechslung handeln. Dann erfuhr ich aber, daß es genau um den verhaßten Leiter der Horror-Intensivstation geht -offenbar hat ihn jemand wegen schwerer Körperverletzung angezeigt und mich als Zeugin angegeben, vielleicht hat man meinen Namen aber auch aus den Akten; der Kripo-Beamte wollte oder konnte mir dazu keine Angaben machen.
Ich bin immer noch wie vor den Kopf gestoßen -immerhin bin ich seit über sechs Jahren von dieser Abteilung weg! In dieser Zeit habe ich vieles verdrängt und zu vergessen versucht, und nun kommt so vieles wieder hoch…
Es gab mal eine Zeit, da hätte ich es als Erlösung empfunden eine solche Aussage machen zu können… aber nach über sechs Jahren? Zum einen habe ich viele Sachen verdrängt, zum anderen will ich an Vieles einfach nicht mehr zurückdenken müssen -es gibt nichts Schlimmeres als Gewalt gegen Wehrlose, selbst wenn diese Gewalt passiv ist.
Von der Art der “Mitarbeiterführung” mal ganz zu schweigen.
Es hat mich soviel Kraft und Selbstdisziplin gekostet nicht genauso zu werden und den neuen Leuten und Schülern die mir anvertraut wurden (ich war als Mentorin tätig) eine gute und verantwortungsvolle Pflege zu vermitteln, obwohl ausgerechnet der Chef das Gegenteil vorgemacht hat -mit einer fast schon arroganten Selbstverständlichkeit. Leider gab es auch Zeiten, in denen ich -zumindest vorübergehend- das nicht geschafft habe, ich wurde irgendwann sarkastisch und demotiviert; bis heute bin ich nicht bereit, Schüler und Mitarbeiter komplett einzuarbeiten… dieses Pulver habe ich wohl vorzeitig verschossen, leider.
Andererseits hat dieser ehemalige Leiter soviel Dreck am Stecken, daß er jede Strafe verdient hätte -ich möchte nicht zählen müssen, wieviele Patienten er im Laufe seiner Berufsjahre vernachlässigt und gefährdet hat oder sogar Schlimmeres.
So gesehen habe ich eigentlich die Pflicht gegen ihn auszusagen…aber es kommt so vieles wieder hoch was ich vergessen wollte, womit ich bis heute nicht klar komme. So ganz genau weiß ich auch noch gar nicht worüber ich aussagen soll, meine Vernehmung ist erst nächste Woche Mittwoch; aber ich denke schon den ganzen Tag über nichts anderes als diese Sache nach und es macht mich einfach völlig fertig.
Ich fühle mich hin und her gerissen -auf der einen Seite will ich nicht zu dieser Vernehmung und diese Dinge wieder vor Augen haben, gleichzeitig hoffe ich aber auch irgendwie daß man mir die richtigen Fragen stellt, damit endlich alles vom Tisch ist.
Dann ist da aber auch die Ungewissheit wieviel und was ich überhaupt erzählen darf? Das Meiste beruht schließlich auf Beobachtungen und ist so lange her, welche Beweise kann ich da erbringen? In wie weit ist meine Schweigepflicht in so einem Fall aufgehoben?
Hinzu kommt noch daß ich den Verdacht habe, daß diese Anzeige von einer ehemaligen Kollegin erstattet wurde, warum hatte ich nie den Mut diesen Schritt zu wagen? Wäre es meine Pflicht gewesen und kann man mich dafür belangen daß ich es nicht getan habe?
Je länger ich daran denke, umso mehr Fragen tauchen auf und ich hätte die ganze Sache am liebsten hinter mir, oder am allerliebsten hätte ich nichts damit zu tun, aber es führt wohl kein Weg dran vorbei…Traurige Grüße, Artemis
4. September 2007 um 11:38 Uhr #16344Liebe Artemis,
ich kann dich völlig verstehen. Ich kann zwar nicht nachvollziehen, wie sehr einen sowas fertig machen kann, weil ich damit – Gott sei Dank – noch nie konfrontiert war, aber es hört sich echt schrecklich an. Ich weiß, es ist gefährlich, einen Rat aus der Ferne zu geben, ich kenn ja nur das, was du schreibst, und nicht dich und das Krankenhaus! Und ein Psychologe bin ich auch nicht. Aber wenn du mir versprichst, über meinen Rat gut nachzudenken, will ich mal meinen Senf dazu geben:
Du schreibst, dass du vieles verdrängt und immer noch nicht verarbeitet hast, und Angst davor, dich wieder daran erinnern zu müssen. Das glaub ich dir aufs Wort, aber ich glaub eben auch, dass das Gerichtsverfahren eine Chance für dich sein kann, endlich damit abzuschließen. Es wird wahrscheinlich echt hart werden für dich, aber stell dir mal vor, dieser Mann bekommt seine gerechte Strafe, und das, was er seinen Patienten angetan hat, wird endlich “gerächt” (blödes Wort, mir fällt aber grad kein besseres ein), glaubst du nicht, dass es dir dann besser geht?
Deine konkreten Fragen zum Verfahren, was du sagen darfst und so, kann ich dir natürlich nicht beantworten, aber da wird es sicher jemanden geben, der das kann, ein Anwalt oder so. Und vielleicht sind da auch genug andere Zeugen, sodass deine Aussage unnötig sein könnte. Aber du hast dich damals auch schon so für das Wohl der Patienten eingesetzt, und kannst jetzt dabei helfen, deinen Kampf endlich zu Ende zu bringen! Es gibt kein richtig und falsch, und egal wie du dich entscheidest, ist es völlig in Ordnung. Aber ich denk, es könnte dir helfen, die Sache zu verarbeiten.
Hast du schon mit jemand darüber gesprochen, der damals da gearbeitet hat oder so? Vielleicht kannst du dich mit jemandem zusammentun und das gemeinsam durchstehen. Ich wünsch dir auf jeden Fall ganz viel Kraft, egal wie du dich entscheidest!
Ganz lieben Gruß, Helene
8. September 2007 um 13:57 Uhr #16347Hallo Artemis,
ich verstehe deinen Zwiespalt. Ich an deiner Stelle würde aussagen. Auf jeden Fall. AUch nach so langer Zeit. Aber wenn nicht genügend aussagen und nichts passiert, was passiert dann? Geht dann der Wahnsinn nicht weiter? Klar, man verdrängt das alles,aber wenn du jetzt aussagst und diese Zeit durchgestanden hast, kannst du es dann nicht beruhigt abhaken mit einem guten Gewissen? Könntest du es jetzt ruhen lassen, wenn nichts passiert?
Ich könnte das nicht. Es ist sicher eine harte Zeit, und wird nicht einfach. Aber du hast sicher Freunde die dir durch diese zeit helfen können und uns hier im Forum gibt es auch.
Ich verstehe, dass du nachdenklich bist, ob es für dich persönlich nicht besser wäre es tief vergraben zu lassen. Aber jetzt hast du die Chance etwas zu verändern, in drei wochen ist sie vorbei… Selbst wenn es vergangen ist, ich denke das Menschen für solche Dinge bestraft werden sollten und man auch bereit sein sollte auszusagen.Ich wünsche dir auch viel Kraft in wegen der sache mit dem aussagen, ziehe einen anwalt hinzu. Telefonische auskunft ist meistens kostenlos.
Alles Gute! *knuddel*
Elli18. Oktober 2007 um 11:51 Uhr #16345Hallo Artemis,
wie ist es dir denn nun ergangen, wie hast du dich entschieden? Es würde mich echt interessieren, wie der Prozess ausgegangen ist! Magst du ein bisschen erzählen?
Liebe Grüße, Helene
30. Oktober 2007 um 23:10 Uhr #16343Hallo ihr Lieben,
danke für eure Anteilnahme und die aufbauenden Worte! Nun ist das Ganze über sechs Wochen her, und es war eigentlich gar nicht so schlimm wie ich gedacht habe. Trotzdem habe ich mich immer wieder davor gedrückt etwas dazu zu schreiben; irgendwie schäme ich mich immer noch damals nichts unternommen zu haben -man hat ja eine Betriebsschweigepflicht, dann kriegt man ja noch ein Arbeitszeugnis von der Klinik wenn man gekündigt hat, und dann ist man beschäftigt mit Neueinarbeitung, Umzug, etc…
Jedenfalls war es ja “nur” eine polizeiliche Vernehmung (zur Anklage ist es noch nicht gekommen) und der Beamte war sehr freundlich und es war tatsächlich eine ehemalige Kollegin, die mich als Zeugin benannt hatte. Sie hat zwar meine “kontroverse Haltung” zu der damaligen Arbeitssituation betont, aber leider hat sie bis heute nicht auf meine Mails geantwortet, was ich aber irgendwie auch verstehen kann -das ist aber ein anderes Thema.
Es ging tatsächlich um die Pflegemißstände die ich ja schon beschrieben habe, und was ich noch wußte habe ich erzählt. Leider konnte ich keine Namen oder Daten nennen, wofür der Beamte aber völliges Verständnis hatte. Teilweise hat er in anderen Aussageprotokollen nachgeschlagen und ähnliche Beschreibungen gefunden -so schlecht scheint mein Gedächtnis also gar nicht zu sein 🙂 …
Was ich allerdings schlimm fand: einer meiner ehemaligen Mitarbeiter wurde beschuldigt, bei Patienten (die eigentlich sterben “durften”) nachgeholfen zu haben; dazu ist mir aber tatsächlich nichts bekannt -bei sowas hätte ich allerdings auch definitiv nicht den Mund gehalten!!!
Ob es gegen meinen ehemaligen Chef zu einer Anklage kommt, weiß ich nicht; aber wenn jemand nach 35 Jahren aus einer Klinik “ausscheidet” (es war ein Auflösungsvertrag) -mal ehrlich, wieviel Möglichkeiten hat man da mit >50 wieder eingestellt zu werden? Ich hoffe, daß er in der Pflege keinen Fuß mehr fassen kann und denke daß das Strafe genug ist!
Daß ich da nochmal als Zeugin vor Gericht gebraucht werde kann ich mir nicht vorstellen -schließlich weiß ich die Namen und Daten der betroffenen Patienten tatsächlich nicht mehr; außerdem wie soll man denn im konkreten Fall nachweisen können, daß es dem Patienten tatsächlich eine Lebensverkürzung beschert hat, daß er nicht abgesaugt, nicht gewaschen oder nicht gedreht wurde?
Einiges jedoch habe ich daraus gelernt:
1. Es gibt DOCH so etwas wie Gerechtigkeit, manchmal kommt sie zwar spät, aber sie kommt 😀 !
2. Auch wenn ich immer versucht habe meine Patienten bestmöglich zu versorgen werde ich in Zukunft noch mehr überlegen ob ich wirklich ALLES getan habe, was ich kann
3. Ich werde wieder vermehrt junge Mitarbeiter und/oder Schüler unter meine Fittiche nehmen -Frust hin oder her, ich entscheide doch irgendwie ein bißchen mit wie sich unser “Nachwuchs” entwickelt; und
4. Sollte ich jemals wieder auf vergleichbare Mißstände treffen (was ich nicht hoffe!) werde ich mich mit Sicherheit nicht mehr so zurückhalten und alles tun um diese aufzudecken und zu beheben wenn möglich.Ich weiß nicht, vielleicht muß man erst solche Erlebnisse durchmachen um zu seinem Gewissen stehen zu können und zu begreifen wozu Menschen fähig sind, oder liegt es daran daß man sowohl an beruflicher als auch persönlicher Erfahrung reifer wird?
Naja, jedenfalls habe ich nun endlich das Gefühl mit dem Thema “abgeschlossen” zu haben, auch wenn ich manchmal davon träume, aber das ist ja auch normal wenn man soviele Jahre daran zu knacken hatte, oder? Jedenfalls geht es mir jetzt um Längen besser als damals als ich den Thread angefangen habe;ich habe zwar noch über ein paar Sachen nachzudenken, muß aber keine Angst mehr davor haben 🙂 .LG, Artemis
31. Oktober 2007 um 7:23 Uhr #16348hallo,
eine freundin von mir arbeitete im altenheim. sie erledigte ihren job mit viel liebe und aufopferungsvoll. eines tages ging es dem altenheim finanziell nicht mehr so gut. die führungsebene beschloss einige mitarbeiter rauszuekeln. die freundin von mir kümmerte sich um einen patienten dem es nicht so gut ging. am nächsten tag war er tot. es war aber nicht ihre schuld. sie wurde gekündigt. später gab es auch noch ein gerichtsverfahren. im endeffekt konnten sie ihr nichts nachweisen. aber ihren job war sie trotzdem los. so einfach ist das hier wenn man jemand los werden will. ich find das eine echte sauerei was da abläuft. ich konnte das gar nicht glauben als sie es mir erzählte
31. Oktober 2007 um 17:31 Uhr #16346Hallo Artemis!
Freut mich total zu lesen, dass du offensichtlich die richtige Entscheidung getroffen hast! Ich denke auch, dass es gut für dich und für die Sache war, auszusagen. Ich glaube, man geht immer etwas zu sehr vom Guten im Menschen aus, und muss dann erst ein paar schlechte Erfahrungen machen, bis man etwas vorsichtiger und kritischer wird. Gibt halt leider doch wirklich schwarze Schafe… 🙁 Aber es ist ja nochmal alles gut ausgegangen 🙂
Dann hoff ich, dass du sowas nie wieder erleben musst, und wünsch dir in deinem Beruf alles Gute 🙂
Liebe Grüße, Helene
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